Cruising, Brokeback Mountain und Call Me by Your Name
In seinem Buch „Figuren des schwulen Kinos“ untersucht der renommierte Filmkritiker und Professor D. A. Miller die Darstellung von Homosexualität in einigen der bekanntesten schwulen Filmen der letzten Jahrzehnte. Anhand detaillierter Analysen von Filmen wie Cruising (1980), Brokeback Mountain (2005) und Call Me by Your Name (2017) hinterfragt Miller, wie diese Werke die schwule Identität und das Begehren darstellen – und was dabei möglicherweise ungesagt oder unsichtbar bleibt.
Der Thriller Cruising von William Friedkin ist ein zentrales Thema in Millers Untersuchung. Dieser Film, der zur Zeit seiner Veröffentlichung für seine Darstellung der schwulen Subkultur scharf kritisiert wurde, verbindet homosexuelles Begehren mit Gewalt und Verbrechen. In den 1980er Jahren bot Cruising ein düsteres Bild schwulen Lebens, das von Paranoia und Angst durchzogen war. Miller erkennt jedoch in Friedkins Werk eine mutige und radikale Neugier auf schwule Praktiken, die in der Mainstream-Kultur oft verborgen bleiben. Durch die Verwendung echter Schauplätze und Laiendarsteller, die authentische sexuelle Handlungen vor der Kamera ausführen, zeigt Cruising eine Sexualität, die auch heute noch selten filmisch dargestellt wird.
Im Gegensatz dazu widmet sich Miller auch zwei modernen Klassikern des schwulen Kinos: Brokeback Mountain und Call Me by Your Name. Beide Filme wurden für ihre emotionale Tiefe und visuelle Schönheit gelobt, doch Miller sieht in ihnen ein Problem: Trotz ihrer scheinbaren Subversivität und Ehrlichkeit bleibt das eigentliche schwule Begehren in diesen Filmen zahnlos und oberflächlich. In Brokeback Mountain, so argumentiert er, bleibt die Darstellung von Homosexualität auf die Qual und den inneren Kampf der Charaktere beschränkt. Der Film konzentriert sich weniger auf die sexuelle Identität der Protagonisten, sondern auf deren vergeblichen Versuch, ihre Sexualität zu unterdrücken.
In ähnlicher Weise kritisiert Miller Call Me by Your Name dafür, dass es die sinnliche Schönheit der italienischen Landschaft über die emotionale und sexuelle Verbindung der Charaktere stellt. In den entscheidenden Momenten, in denen Elio und Oliver ihrer Leidenschaft nachgeben, wendet die Kamera den Blick ab und zeigt stattdessen die malerische Umgebung. Laut Miller entsteht so ein filmisches Narrativ, das den schwulen Charakteren die volle Darstellung ihrer Sexualität verweigert und diese stattdessen subtil abwertet. Das Happy End, das Oliver in einer heterosexuellen Ehe findet, verstärkt diese Botschaft weiter und deutet darauf hin, dass die Heteronormativität letztlich siegreich bleibt.
Millers Essays sind sowohl analytisch präzise als auch stilistisch provokativ. Seine kritischen Betrachtungen hinterfragen nicht nur die Art und Weise, wie schwule Identität im Film dargestellt wird, sondern werfen auch ein Licht auf die sozialen und politischen Implikationen dieser Darstellungen. Besonders interessant ist seine Beobachtung, dass das schwule Begehren in vielen Filmen „gezähmt“ wird, um für ein heteronormatives Publikum akzeptabler zu sein. Während die Landschaften und die emotionalen Kämpfe der Charaktere gefeiert werden, bleibt die eigentliche Sexualität oft unsichtbar.
Mit scharfer Zunge und einer erfrischend direkten Herangehensweise bietet Miller eine neue Perspektive auf Filme, die von vielen als Meisterwerke des queeren Kinos betrachtet werden. Sein Werk ist eine tiefgehende und unterhaltsame Auseinandersetzung mit dem schwulen Kino, die sowohl cineastisch Interessierte als auch Kulturwissenschaftler ansprechen wird.
„Figuren des schwulen Kinos“ ist nicht nur eine Sammlung scharfsinniger Filmkritiken, sondern auch eine wichtige Stimme in der Diskussion über die Repräsentation von LGBTQIA+-Themen in der Popkultur. Miller fordert seine Leser*innen dazu auf, ihre Sicht auf das schwule Kino zu überdenken und hinter die schillernde Oberfläche der Bilder zu blicken.